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BILDMASCHINE
Gwendolin Kremer
»Passages«. Kinetische Wandobjekte von Sebastian Hempel


»Ich betrachte mich tatsächlich nach wie vor als Bildhauer. Denn ich beschäftige mich mit räumlichen Prozessen. Das einzige, was für mich nicht in Frage kommt, ist eben, den Raum auszudrücken, indem ich etwas hinstelle und sage, das ist jetzt ein Gegenstand im Raum. Das funktioniert heute nicht mehr [ … ].«
Die amerikanische Kunsthistorikerin Rosalind E. Krauss würde diese Sätze des 1971 in Dresden geborenen Künstlers Sebastian Hempel sofort unterschreiben. In ihren Schriften zur Skulptur im 20. Jahrhundert befasst sich Krauss intensiv mit der Frage, wie der Begriff der Skulptur nach Auguste Rodin, nach der Avantgarde-Bewegung sowie Minimal Art und Land Art in den 1970er Jahren zu bewerten ist und ob und in welchem Kontext dieser überhaupt noch zur Anwendung kommen kann.
So konstatiert Krauss in Passages in Modern Sculpture (1977),  dass entwicklungsgeschichtlich eine »zunehmende Verzeitlichung der Skulptur«  stattgefunden habe; Skulptur nach Rodin stünde nicht mehr der Sinn, im Hier und Jetzt eine verdichtete Darstellungsform von Zeitlichkeit auszudrücken, vielmehr sei eine »Prozessualisierung der Objektformation« vordergründig.
Für die Minimal Art stellte Krauss fest: »Although responsive to the same considerations, the temporal values that were built into the Minimalist sculpture of the 1960s were primarily engaged with questions of perception. The viewer was therefore involved in a temporal decoding of issues of scale, placement, or shape-issues that are inherently more abstract than, say, the contents of memory.« 
Zeit, Material und Raum stellen sich folglich als die drei bestimmenden Parameter des erweiterten Skulpturbegriffs dar; diese haben wiederum eine zentrale Bedeutung für die Wahrnehmung und das Verhältnis von Betrachter und Werk.
Skulptur primär als Zeiterfahrung ist vielleicht auch eine Definition, die Sebastian Hempel für seine Arbeiten gelten lässt. Hempel, der nach einer Steinbildhauerlehre ein Studium der Bildhauerei an der Hochschule für Bildende Künste Dresden aufnahm, wurde schon im Grundstudium klar, dass er keinen Hammer und Meißel mehr in die Hand nehmen wollte, um ein eigenständiges künstlerisches Werk zu schaffen. Vielmehr wandte er sich motorbetriebenen Apparaturen und physikalischen Phänomen wie dem Lichtvolumen und der Schwerkraft zu und ist damit nun einer ganz eigenen Form kinetischer Objekte und Rauminstallationen auf der Spur. Damit steht der Dresdner Bildhauer in einer vergleichbaren Traditionslinie wie Krauss sie in Passages eröffnet.
Auch Hempel hat sich in seinen Arbeiten darauf verlegt, Bewegung nicht in einem zeitlich verdichteten Verlauf sichtbar zu machen. Zwar spielt Bewegung, Be- und Entschleunigung, eine zentrale Rolle in seinem Werk, doch geht es ihm vorrangig um die Generierung einzelner Bilder, die er Mithilfe komplexer technischer Apparaturen und unter Bezugnahme auf physikalische Gesetzmäßigkeiten unserer Wahrnehmung konzipiert. Geschwindigkeit dient ihm dabei mehr als eine Art Vehikel, um eine veränderte Raumerfahrung sinnlich erfahrbar zu machen oder auf den umgebenden Raum zu reagieren und zugleich unsere Sehgewohnheiten zu hinterfragen.
Am Beispiel der wandfüllenden Arbeit »Black Movement«, die ab 27. Dezember im White Cube der Bartha Chesa in S-chanf im Engadin gezeigt wird, sollen Hempels originäre Bildfindungen, die auf Errungenschaften der kinetischen Kunst und der Light Art spielerisch rekurrrieren, sich dabei aber zugleich auf Wahrnehmungsmodi beziehen, die der digitalen und technisierten Welt des 21. Jahrhunderts eingeschrieben sind, im Folgenden erläutert werden.
Für die Arbeit »Black Movement« von 2007 hat Sebastian Hempel eine Verspannung aus Plastikbändern und motorbetriebenen Rollen konzipiert, die vor einer schwarzen Wand angebracht ist. Auf den Bändern sind zehn weiße Stoffbahnen befestigt, die in einer linearen Bewegung vertikal und horizontal hin und her fahren. Im Zwanzig Sekunden-Takt wechselt die Ansicht zwischen Bewegung und Stillstand. Da sich die Motoren unterschiedlich schnell drehen, bewegen sich die weißen Rechtecke in einer ihnen eigenen Geschwindigkeit, so entstehen bereits im On-Modus variable Darstellungen der sich überlappenden Felder vor dem schwarzen Hintergrund. Stoppen die Motoren, zeigt sich dem Betrachter das Gesamtbild ebenfalls jedes Mal aufs Neue verändert. Und erst mit dem einsetzenden Moment der Entschleunigung wird der Betrachter auch der technischen Konstruktion gewahr: Denn solange die weißen Felder zügig durch die Halterungen gleiten – nur vom Rascheln des Stoffs begleitet – stellt sich »Black Movement« als minimalistische wandfüllende Farbfeld-Installation dar, die vor allem über den Schwarz-Weiß-Kontrast und die in Bewegung gesetzten Flächen Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Die sich stets unvorhersehbar formierende Ansichtigkeit der kinetischen Wandarbeit setzt mithilfe des Zufallsprinzips auf die visuelle Neugier des Rezipienten. Hat man bei den ersten Stop-and-Gos die zugrundeliegende Methode der aleatorischen Setzung verstanden, möchte man dennoch ein ums andere Mal die zielstrebigen Wendungen der weißen Flächen verfolgen und versucht zu erahnen, in welcher Abfolge sich diese zu einer kurzen Rast einfinden, bevor sie erneut ihre rasanten Bahnen ziehen. In diesem Zusammenhang spricht Sebastian Hempel von einer »Bild-Dramaturgie«: Bewegte und unbewegte Bilder wechseln sich mit der von ihm bestimmten, also einer vorhersehbaren Regelmäßigkeit ab, die allerdings zu unkalkulierbaren Ergebnissen in der Fläche und folglich »zu einer Vielzahl von spannenden und auch langweiligen Konstellationen« führen können. Hempel sucht sich häufig einen Rahmen für seine Arbeiten. In »Black Movement« ist das die vorgefundene Größe der Wand, die als ›Bild‹hintergrund fungiert. Anklänge an das konventionelle Tafelbild bleiben so erkennbar, geht es ihm doch auch immer um das – zugegebenermaßen flüchtige – Einzelbild und dessen mechanischer antriebsgesteuerten Reihung.
Den Objekten ist ein immer wiederkehrendes Thema eingeschrieben: das Sichtbarmachen und Verschließen unterschiedlicher Bild- und Raumebenen, wenn Überlappungen und Rotationen zu einem sich ständig verändernden visuellen Eindruck führen. Das Davor und Dahinter, das Sehen und Nichtsehen, Zeigen und Verbergen spielt auch in früheren Arbeiten wie »Innen Aussen« von 1999 eine zentrale Rolle, wenn motorbetriebene Jalousien den straßenseitig verglasten Eingang eines Ausstellungsraumes blickdicht verriegeln und dann wieder freigeben. Auch hier liegt der visuelle Reiz im Wechselspiel der sich schnell schließenden und öffnenden Jalousien auf der in Form eines Triptychons angeordneten Fensterfront. Zugleich erfolgt damit ein direkter Eingriff in die bestehende Architektur und die spezifische örtliche Gegebenheit, die von Hempel als verstärkender Irritationsfaktor eingeplant wird. In dieser frühen Arbeit aus den 1990er Jahren geht es noch vorrangig um das Finden von objekthaften Metaphern, um die Grenzen von Innen- und Außenraum darzustellen, auch um die Gegenüberstellung von privatem und öffentlichem Raum für die Hempel eine eigenständige Bildsprache findet. Charakteristisch hierfür ist die Reduktion bei der darstellenden Umsetzung auf nur wenige Materialien und die gleichzeitige technisch ausgefeilte Realisierung, die auch für »Black Movement« kennzeichnend ist. Allerdings erreicht Hempel hier immer komplexere Fertigkeiten, um das Verhältnis von Geschwindigkeit zu Bildvordergrund und Bildhintergrund zu kontrollieren, wobei dabei der Moment des Zufalls bewusst eingeplant ist und das spielerisch-humorvolle Element, das den meisten seiner Objektfindungen zu eigen ist, zum Tragen kommt.
Sebastian Hempels kinetische Objekte stehen in einer künstlerischen Tradition, die Rosalind E. Krauss erstmals in dieser Form für die Minimal Art theoretisch fasste. Dem Dresdner Künstler gelingt es aber darüber hinaus, die in den 1960er und 70er Jahren gewonnenen Freiheiten der Skulptur fruchtbar zu machen, indem er mittels der bestimmenden Parameter Zeit, Material und Raum neue ästhetische Verknüpfungen herzustellen vermag. Hempel denkt das Verhältnis von Betrachter und Werk immer wieder neu und setzt dabei auch physische Wahrnehmungsprozesse in Gang, die dem Rezipienten Erscheinungen des medialisierten Zeitalters vor Augen halten. Nach Maurice Merleau-Ponty wird der Körper in Hempels Werk selbst zum »Grund skulpturaler Erfahrung«.
 
1 Sebastian Hempel im Gespräch mit Ulrike Lorenz, in: Sebastian Hempel (Ausst.-Kat.), Gerhardt-von-Reutern-Haus Willingshausen, Gera 2001, S. 8–24, hier S. 15.
2 Rosalind E. Krauss, Passages in Modern Sculpture, London 1977, S. 188.
3  Michael Lüthy, Expanded Field/Rosalind Krauss, in: skulptur projekte münster 07, hrsg. von Brigitte Franzen et. al, Köln 2007, S. 356–357, hier S. 356.
4 Ebda.
5 Rosalind E. Krauss, Video: The Aesthetics of Narcissism, in: October, Vol. 1. (Spring, 1976), S. 50–64, hier S. 64.
6 Krauss 1977, S. 188
 
© Gwendolin Kremer
Publikation: quarterly report I 2011
Herausgeber: Galerie von Bartha, Basel, CH