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BILDMASCHINE
MARK GISBOURNE
Sebastian Hempel „All work and no play makes Jack a dull boy.“ 1

Wenn ich mich gleich zu Beginn auf den Aspekt des Spielens beziehe, möchte ich damit nichts anderes bezwecken, als den Leser unmittelbar auf die mentale Einstellung und auf den Ursprung der Ausdrucksform in den kinetisch-plastischen Installationen und Objekten von Sebastian Hempel hinzuweisen. Obwohl sich seine Arbeit wesentlich mit Phänomenen des Lichts, des Raumes und der Zeit, der Geschwindigkeit und des Klangs, der Wahrnehmung und der Bewegung befasst, liegt die Essenz von Hempels Schaffen besonders in manipulierenden Untersuchungen, die aus dem „experimentellen Spiel“ mit diesen Elementen heraus entstehen. Neugier, die Suche nach Lösungsansätzen, Verwunderung und spätere Entdeckung sind von Anfang an in seinen plastischen und räumlichen Unternehmungen mit einbezogen. Er meint: „Das Kunststudium ist meines Erachtens dazu da, die eigenen Interessen auszuloten.“ 2
Unweigerlich zielt der Aspekt des Spielens auf Vergnügen und Spaß, auf die optischen Spiele des Künstlers ebenso wie auf seine räumlichen Aktionen ab, wobei man gerade auf dieser zweiten Ebene Elemente von Witz und Humor findet. Aus diesem Grund beschäftigt sich Sebastian Hempel mit den lehrreichen Aspekten von Gegenständen, wie er sie jeden Tag entdeckt und erlebt, nur um andere, feiner differenzierte Be-deutungen und vielschichtige optische und akustische Effekte zu erzeugen. Ideen, die ausgehen von menschlichen Sinneserfahrungen optischer oder akustischer Natur, vermittelt durch bewegliche und räumliche Impulse, sind ein allgegenwärtiger Bestandteil seiner plastischen Arbeiten und Installationen.
Die Tatsache der langen Entwicklungsgeschichte der kinetischen Kunst im Lauf des 20. Jahrhunderts, bestimmt von den beiden Faktoren phänomenologische Wahrnehmung und / oder Dynamik der Bewegung, sollte nicht die Augen davor verschließen, dass immer neue revolutionäre optische Modelle nach wie vor fundamental für die Weiterentwicklung unseres Sehempfindens sind.3 Visuelle Stimulationen, optische Täuschungen und deren Zweck(e) beeinflussen zweifelsfrei nach wie vor unsere Erfahrung der Welt. Dies zeigt sich sowohl für die Alltagserfahrung von Spezialeffekten in Filmen (meist nichts weiter als illusionistische Manipulationen, die den Zuschauer in einen passiven Zustand versetzen) als auch für das direkter, auf aktive Teilnahme angelegte Vergnügen, das man mit Sebastian Hempels kinetisch-plastischen Arbeiten haben kann.
Für MEGAPERLS (1997), um ein frühes Beispiel seiner Arbeiten anzuführen, verwendete Sebastian Hempel einen leeren Raum, wo im Boden eingelassene Ventilatoren fünfhundert Tischtennisbälle in alle Richtungen bliesen, immer wenn diese in ihre Nähe kamen. Auf diese Weise kam von Anfang an das Spiel gekoppelt mit den Unwägbarkeiten des Zufalls zum Tragen. Spiel als Begriff hat natürlich selbst eine weitreichende philosophische Konnotation, doch mehr als ein bestimmter Versuch der Theoretisierung dessen, was geschah, war es das spontane Resultat seiner Arbeit, das Sebastian Hempel interessierte.
Was den Künstler beschäftigt, ist vor allem das Vorhersehbare und das Unvorhersehbare kinetischer Vorgänge, was aufgrund des Fehlens von zielgerichteten Funktionen als Vergnügen einer scheinbar zufalls-bestimmten Sinneserfahrung benannt werden kann. Es ist genau dieses Merkmal, das er in seinen Arbeiten besonders betont und das gleichzeitig ausschlaggebend für die Unterscheidung seiner Installationen von vielen früheren kinetischen Arbeiten ist. Es verwundert daher auch nicht, wenn der Aspekt des Spiels eine zentrale Bedeutung in seinem erst kürzlich entworfenen Projekt für eine im Zentrum von Dresden geplante Skater-Anlage einnimmt.4

1 Sinngemäß: „Nur Arbeit und kein Spiel macht aus Jack einen langweiligen (dummen) Jungen.“ Englisches Sprichwort unbekann¬ten Ursprungs, erstmals schriftlich überliefert 1670 in der von dem englischen Botaniker und Naturforscher John Ray zusammengestellten Sprichwortsammlung „A Collection of English Proverbs“.
2 Sebastian Hempel im Gespräch mit Ulrike Lorenz, Sebastian Hempel, Katalog Gerhardt-von-Reutern-Haus, Willingshausen (Artist-in-Residence Programm Willingshausen), 2001, S. 7-24 (S. 12)
3 Zur Darstellung über die Entwicklungsgeschichte der kinetischen Kunst siehe Guy Brett (Hg.), Forces Fields: Phases of the Kinetic, Hayward Gallery, South Bank Centre, London / Museu d’art Contemporani de Barcelona, Barcelona, 2000.
4 Wettbewerbsbeitrag für die Gestaltung des Skate-Parks Lingner-allee Dresden 2006 (nicht realisiert).



Bewegung und Ruhe
Sebastian Hempel interessiert sich dafür, was ruht und in Bewegung gesetzt werden kann, oder – anders betrachtet – welche verschiedenen Formen der Bewegung notwendig sind, um Gegenstände aus ihrem ruhenden Zustand heraus zu bewegen. CIRCULAR TRANSMISSION, eine Arbeit aus dem vergangenen Jahr, macht dies besonders deutlich: der Künstler konstruierte runde, im Boden eines Raumes eingelassene Scheiben, die zu rotieren beginnen, sobald Personen sie betreten. Aus einer rein optischen Perspektive betrachtet, erinnert diese Arbeit an die Wandinstallationen Gerhard von Graevenitz’ aus der Mitte der 1960er Jahre. Sebastian Hempel hat dessen Thematik jedoch weiter radikalisiert, indem er das, was bei Graevenitz kleine Wandobjekte mit noch kleineren rotierende Scheiben waren (der Betrachter verharrte in einer stati¬schen Position), zu etwas im Boden selbst Integriertem transformierte.
Im Gegensatz zum distanzierten optischen Prozess, bei dem der Zuschauer lediglich einen Effekt beobach-tete, bewegt Hempels Arbeit die Betrachter körperlich und bezieht sie in das Phänomen mit ein (sie ste¬hen still, werden aber trotzdem bewegt). Von Graevenitz erläuterte seinerzeit: „... meine Arbeit lässt sich zwischen Herausforderung und Spiel einordnen. Besonders interessiere ich mich für Systeme im Bereich der visuellen Realität. Ich benutze keine jahrhundertealten Materialien und Techniken, sondern heutige, alltägliche. Meine Objekte können vervielfältigt werden. Mit der Anwendung realer Bewegungen geht die Eliminierung von Bestrebungen einher, die auf Ewigkeit und Beständigkeit abzielen. In der Unvorhersehbarkeit der Bewegung liegt die Herausforderung zu spielen, wer spielt mit mir?“ 5
Die Unterscheidung zu Sebastian Hempels Arbeit ist wichtig, da von Graevenitz die „visuelle Realität“ betont, währenddessen das, was CIRCULAR TRANSMISSION ausdrückt, sowohl visuell als auch körperlich erlebt wird. In Arbeiten wie von Graevenitz’ KINETIC OBJECT WITH 37 DISCS ON WHITE (1967), entspringt der physische Aspekt größtenteils der optischen Projektion, und nicht der beweglichen oder körperlichen Teilnahme, die Sebastian Hempel erweitert und entwickelt hat.
Die Einbeziehung und, wie Sebastian Hempel meint, die Intensivierung des körperlichen Gefühls zusammen mit dem optischen Erlebnis, ist ein entscheidender Faktor für seine Arbeiten. Dies kommt besonders in seiner Bodeninstallation PROPOLSTICS (1998) zum Ausdruck, welche er für einen Projektraum der Kunsthochschule in Dresden geschaffen hat. Bei dieser Arbeit wurde der gesamte Boden eines Raumes mit eng aneinandergelegten runden Holzpfählen ausgelegt, die durch einen motorisierten Mechanismus entweder im oder gegen den Uhrzeigersinn rotierten und auf diese Weise einen verwirrenden Effekt erzeugten, wenn man versuchte, über den Boden zu gehen. Die Verwendung von Motoren, welche die Holzrollen antrieben, und die unter dem Boden verborgenen Mechanismen (worauf später noch einmal eingegangen werden soll), war für den Künstler in diesem Fall, und bedeutet für gewöhnlich, das Einbringen eines versteckten Inhalts. Das heißt, ihr Vorhandensein wird im Prozess offensichtlich, sie werden aber durch den Künstler nicht äußerlich gezeigt. Damit unterscheidet sich Hempels Arbeit wesentlich von der eines Künstlers wie Jean Tinguely, dessen chaotische Apparate mit viel Aufwand jede einzelne Komponente ihrer Antriebs-mechanismen offen darstellen.6 Doch Bewegung als auslösender Mechanismus ist etwas, das auch Sebastian Hempel fasziniert, und was in vielen seiner Arbeiten wiederzufinden ist. IRRLICHTER (2002), was der Künstler als kinetisches Lichtobjekt bezeichnet, gibt ein perfektes Beispiel dafür, wie durch den Gebrauch von Sensoren die Auseinandersetzung mit der Arbeit ausgelöst wird. Es ist ein besonders interessantes Beispiel, nicht nur wegen der außergewöhnlichen Darstellung des Antriebsmechanismus, sondern auch, weil hier Licht und Bewegung miteinander vereint werden. Die Installation besteht aus zwei an je einem Punkt außerhalb ihrer Mitte an einem Drehpunkt befestigten Neonröhren. Sobald Besucher den Raum dazwischen betreten, wird der Mechanismus ausgelöst. Die Röhren drehen sich im Uhrzeigersinn und obwohl sie theoretisch zusammenstoßen könnten, passiert dies nicht. Sie erzeugen dabei einen Rotor aus Licht, dessen Geschwindigkeit, Drehung und Radius vom Künstler bestimmt wurde. Da der Einsatz von Rotoren eine lange Tradition hat, man denke nur an Marcel Duchamp/Man Rays ROTARY GLASS PLATES (PRECISION OPTICS 1) (1920) oder Duchamps spätere Arbeiten ROTARY DEMISPHERE sowie die kreisenden ROTORELIEFS aus der Mitte der 1930er Jahre, bleibt das Einzigartige an Hempels Arbeit, dass er nicht nur einen optischen Effekt durch Bewegung erzeugt, sondern darüber hinaus Licht einsetzt, um eine hybride Einheit unter Einbeziehung unmittelbarer körperlicher Teilnahme zu schaffen.7


5 Aufgeschrieben im Jahr 1975, zitiert nach: Gerhard von Graevenitz, Rijksmuseum Kröller-Muller, 1984, ohne Seitenangabe; des weiteren auch in Force Fields, S. 276.
6 Einen guten Überblick über die kinetischen Arbeiten Jean Tingue¬lys bietet Pontus Hulten, „The Man and His Work“, in: Museum Jean Tinguely Basel: The Collection, Basel und Bern, 1996.

7 Zum Kontext von Duchamps Rotorarbeiten siehe Rosalind Krauss, „Where’s Poppa“, in: Thierryde Duve (Hg.), The Definitely Unfinished Marcel Duchamp, MIT Press, Cambridge, Mass., 1991, S. 433-59.



Wahrnehmung und Täuschung
Es wurde oft behauptet, dass Wahrnehmung Täuschung bedeutet, wobei eine so komplexe Aussage davon abhängt, ob die Welt eine wahrgenommene oder vorgestellte Einheit ist, und ebenso auch von den biochemischen Relationen zwischen Auge und Gehirn oder zwischen Sinneswahrnehmungen und Bewusstsein.
Hempels Auseinandersetzung mit den im ästhetischen Erleben wirksamen Begriffen von Wahrnehmung und Täuschung zeigt sich am besten anhand einer Reihe von Arbeiten, die er in den späten 1990er Jahren angefertigt hat. Ein Beispiel dafür ist PRIVAT (1999) – drei weiße Jalousien, die auf gleicher Höhe an einer wei¬ßen Wand angebracht waren, und die sich, sobald man sich näherte und einen Bewegungsmelder auslöste, automatisch ein- und ausrollten und eine weiße Wand bedeckten oder freilegten. Darin liegt ein gewisser Humor im Hinblick auf die klischeebehaftete avantgardistische Verwendung von Weiß auf weißem Untergrund in der monochromen Malerei. Obwohl keine unmittelbare Täuschung beabsichtigt war, könnte es jedoch ein Hinweis auf die ironischen Täuschungen der phänomenologischen Fragen sein, die mit der Diskussion über das Weiß-auf-Weiß aufgeworfen wurden. Damit sind die festgefahrenen und exzessiv geführten Debatten über die Rolle des Weiß, des „white Cube“, und die ganze Schlacht der Beschwörungsformeln gemeint, die das Revival der monochromen Malerei in Großbritannien in den 1990er Jahren begleiteten. Tatsächlich beschäftigte sich die Komödie „Art“, die während Sebastian Hempels Aufenthalt in London im dortigen Wyndham Theatre aufgeführt wurde, genau mit dieser Thematik. Allein aus diesem Grund war sehr wohl mehr als ein kleiner Scherz von dem Projekt zu erwarten. 8
Das Element der Täuschung war offensichtlicher in der dezenten Installation ARROW (2000), die Sebastian Hempel in der Lobby des Bloomsbury Theaters ausstellte. Die Arbeit bestand aus einem rechteckigen Balken mit einem dreieckigen Pfeil, der in eine bestimmte Richtung wies. Näherte sich der Betrachter je¬doch dem Pfeil, verschwand der horizontale Balken auf der linken Seite, der Pfeil klappte schrittweise um und der Balken erschien wieder auf der rechten Seite, so dass das Schild nun in die entgegengesetzte Richtung wies.
Zu dieser Zeit entstand eine Serie von miteinander korrespondierenden Werken wie das elektronische Wandobjekt OHNE TITEL, SPIEGEL und ein weiteres elektronisches Wandobjekt OHNE TITEL (alle 2000). Die erste Arbeit bestand aus dreieckigen Pappstücken, die sich aufrichteten, sobald man sich ihnen näherte. SPIEGEL erzeugte verzerrte Reflektionen in Abhängigkeit von Standpunkt und Blickwinkel des Betrachters. Die zweite Arbeit OHNE TITEL bestand aus zwei rotierenden Lichtelementen, deren Lichtstreifen sich gegenseitig überlappten und umhüllten.
Im Zentrum Londons findet man eine Vielzahl an Theatern und Sebastian Hempel zeigte eine zweite Installation im Bloomsbury Theatre im Rahmen des Makrodemia Theatre Project, die dort für drei Tage zu sehen war. Das Theater befindet sich nur 200 Meter entfernt von der Slade School of Fine Art, an der Hempel zu jener Zeit als Gaststudent arbeitete. Die Arbeit mit dem Titel BOX PERFORMANCE(2000) bestand in einer zehnminütigen Aufführung, in der Kisten chaotisch auf der Bühne hin und her tanzten und sprangen. Die Idee der Kiste, erweitert zu einem Kubus-in-einem-Kubus, war auch Gegenstand eines Werkes, das den einfachen Titel KUBUS(2000) trug. Die Arbeit wurde zum ersten Mal in der Slade School in London ausgestellt, bevor sie 2002 im „White Cube“ des Veletrzni Palace der Prager Nationalgalerie (daher der Begriff des Kubus-im-Kubus) gezeigt wurde. Das Objekt bestand aus einer quaderförmigen Rahmenkonstruktion, die mit transparenter Plastikfolie bespannt und über eine Maschine gestülpt war. Betrat man den Raum, löste der eingebaute Sensor einen Mechanismus aus, der den Würfel wie eine Rodeomaschine wild im Raum herumspringen ließ. Die Verwendung des Zufalls als variables Gestaltungselement wurde bereits erwähnt und bot sich an, auch auf den öffentlichen Raum ausgedehnt zu werden.
Hempels Projekt in der mittlerweile geschlossenen Londoner U-Bahn-Station Aldwych bestand aus einer Wand von aufgespannten Plastikbändern mit blauen Mustern. Ein Motor bewegte die Bänder und erzeugte so aus den Mustern einen dynamischen optischen Effekt. Dies verdeutlicht auch, wie es Sebastian Hempel immer wieder gelingt, mit einfachsten Mitteln große Wirkungen zu erzielen.
Was bei all diesen Projekten auffällt, ist die Tatsache, dass das gewöhnliche Konzept von Masseund Volumen der Skulptur ständig unterminiert wird. Die Bewegung, das Unvorhersehbare und die zerbrechliche Natur von Hempels kinetischen Arbeiten bringt Dynamik in das, was üblicherweise als statisch angesehen wird. Gleichzeitig findet ein Hinterfragen und eine Destabilisierung des Begriffs der Skulptur statt, indem unsere traditionellen wahrnehmungsmäßigen Annahmen und Vermutungen ausgehöhlt werden. Maurice Merleau-Ponty drückte es wie folgt aus, als er von seinen phänomeno logischen Zielen sprach: „Der wahrnehmende Geist ist ein personifizierter Geist. Ich habe zuallererst versucht, die Wurzeln des Geistes in seinem Körper und in seiner Welt wiederherzustellen. Dies steht im krassen Gegensatz zu den Doktrinen, die die Wahrnehmung als ein einfaches Resultat des Einflusses äußerlicher Dinge auf unseren Körper ansehen und auch zu den Behauptungen der Autonomie des Bewußtseins.“ 9 Wie Merleau-Ponty folgt auch Sebastian Hempel der Idee, dass die Wahrnehmung als reiner Mechanismus genauso irreführend ist, wie die Betrachtung der Wahrnehmung als reines Produkt einer Projektion. Folglich ist das, was wir sehen, nicht bloßes Registrieren von Sinnesdaten. Vor allem für den Fall, wenn sich zum Gesehenen eine Idee aufdrängt, würde einer solchen Betrachtung der Aspekt des erfahrungsmäßigen Inhalts der Sinneserfahrung fehlen. Dies ist die philosophische Seite des Begriffs „Spielen“, dessen wesentliche Bedeutung nur in der wirklichen Erfahrung des Spielens liegt.

8 „Art“ erlebte mehr als 2500 Aufführungen und gewann die Oliver and Evening Standard Theatre Awards. Vorpremiere am Wyndham Theatre am 4. 10. 1996, danach vom 15. 10.1996 bis zum 13.10. 2001 auf dem Spielplan, sowie vom 15. 10. 2001 bis zum 4.1.2003 am Whitehall Theatre gezeigt

9 Maurice Merleau-Ponty, „An Unpublished Text by Maurice Merleau-Ponty: A Prospectus of His Work“, in: The Primacy of Perception, Northwestern University Press, 1964, S.3.



Raum und Zeit
Objekte existieren im Raum, aber ihre Wahrnehmung besteht in der und durch die Zeit. Sebastian Hempels Gebrauch von Raum und Zeit ist insofern lehrreich, als dass er räumliche Dynamik, egal ob optischer oder mechanischer Natur, mit verarbeiteter Erfahrung kombiniert. Für WINDOWS (1998), eine Arbeit im art’otel in Dresden an einer rasterartig strukturierten Fensterfront, verwendete der Künstler 16 Markisen aus weißem Tuch und durchsichtigen Folien, die jeweils unabhängig voneinander mechanisch betrieben wurden. Auch hier kam das Prinzip der zufälligen Variable zum Tragen, da keiner der 16 Fensterabschnitte gleichzeitig geöffnet bzw. verdunkelt wurde.
Sebastian Hempel setzt häufig kleine versteckte Motoren in seinen Arbeiten ein (Motoren existieren im Raum, aber sie arbeiten in der Zeit). Dies kann verschiedene Formen annehmen und führt zu mitunter konzeptuellen Effekten. In seiner Arbeit LETTERS, WORDS, SENTENCES (2000) wurden Zeilen und Worte von einer Buchseite entfernt und die sich darunter befindende Seite so partiell freigelegt. In dem Buch versteckt war ein kleiner Motor, der den Text auf der Seite darunter nach oben und unten bewegte, mit dem Effekt, dass sich der Sinnzusammenhang für den Leser des Textes komplett auflöste.
Die Verwendung eines Alltagsfundes und die Umwidmung von Materialien und ihrer Bedeutung spielte auch eine Rolle in der Arbeit JOHN LEWIS KINGSTON (2000), namentlich abgeleitet von einer bekannten britischen Kaufhauskette, deren Plastiktüten dafür benutzt wurden. Die Tüten waren Teil eines „mechanischen Bildes“ und hinter einer Ebene aus horizontalen Glasstäben befestigt. Ihre Bewegung ergab eine optische Verzerrung der Linien und Buchstaben des Firmenlogos. Es ging hier nicht nur um die versteckte Kraft des Motors, der die Tüten bewegte und damit die Möglichkeiten des Sehvermögens in Frage stellte, sondern auch um das versteckte Potential der benutzten Materialien. Es ist genau dieser Aspekt des Materials, den der Künstler in den Mittelpunkt stellt. Was dies nahezulegen scheint ist, dass es nicht so etwas wie ein ontologisches Wesen in den aufgefundenen Materialien gibt, sondern dass sogar bei der Verwendung des banalsten und einfachsten Materials als Ausgangspunkt noch Raum für Erfindung bleibt.
Der Einsatz von Jalousien, Markisen und Fenstern ist auch ein wiederkehrendes Thema in Sebastian Hempels Arbeiten. Seine Fenster-Installation INNEN/AUSSEN (1998), ausgestellt in der Dresdner Galerie Michael Kalinka, bestand aus drei motorbetriebenen Jalousien, die sich ständig öffneten und schlossen. Durch die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen die Jalousien betrieben waren, wurde unablässig die Idee von Durchlässigkeit und Undurchlässigkeit vorgeführt. Die menschliche Gewohnheit, Fenster zu verdunkeln oder zu verhängen, das Herein- und Hinausschauen, spielte bewusst mit den inneren und äußeren Bedingungen unseres täglichen Lebens innerhalb der privaten bzw. öffentlichen Sphäre, in der wir wohl oder übel miteinander auskommen müssen. Durch den Titel der Installation bleibt kein Zweifel über die Absicht des Künstlers.
Die gleiche Idee wurde wieder aufgegriffen und weiterentwickelt in der Arbeit OPTOKOPPLER (2004), gezeigt in der Galerie Baer in Dresden. Bei dieser Arbeit ging es allerdings weniger um das Thema Innen und Außen, als vielmehr um die wortwörtliche Frage von Transparenz und Undurchsichtigkeit (Opazität). Die Verwendung von Motoren und deren unterschiedliche Geschwindigkeiten, welche hier die Wirkung erzielen, mag an die Tatsache erinnern, dass wir das Jahrhundert der Motorisierung eben hinter uns gelassen haben. Es ist unbestritten, dass Fragen von Geschwindigkeit und Beschleunigung das 20. Jahrhundert auf elemen¬tare Weise bestimmt haben.10 Statt jedoch Aspekte der Beschleunigung und Motorisierung in Betracht zu ziehen, geht es Hempel viel mehr um die Art und Weise, wie und wo Motoren eingesetzt und angewandt werden können, um so die von ihm gewünschten Effekte zu erzielen. Er ist demnach weniger an der Frage des Geschwindigkeitsrausches interessiert als an Überlegungen, wie unterschiedliche Geschwindigkeiten unsere Wahrnehmung verändern und beeinflussen können. Dies kommt in seinen runden kinetischen Wandobjekten RGB und BLAU-WEISS (2004) direkt zum Ausdruck, in denen er mit dem Medium Farbe verschiedene optische Veränderungen erzeugt, die durch unterschiedliche Geschwindigkeiten entstehen. In Bewegung gesetzt, pulsieren die Farben der Objekte und verwirren den Betrachter, dessen Erfahrung der Betrachtung statischer Bilder durch die schnelle Drehbewegung verzerrt wird.
Die Regelung von Geschwindigkeit, um optische Effekte hervorzurufen, kommt auch in MOBILE WAND(2004) zum Einsatz. Der Titel erscheint auf den ersten Blick als Paradoxon, ist jedoch ein geläufiger Begriff in der heutigen Kunstszene, wo oft mobile Ausstellungswände bewegt werden. Im genannten Beispiel rotiert in einer Rahmenkonstruktion eine „Wand“ aus weißen Holzlatten, deren Rückseiten jeweils blau gestrichen sind. Der Effekt des Öffnens und Schließens im Lauf eines Rotationsdurchgangs erzeugt den optischen Eindruck eines immer wiederkehrenden Gegensatzes. Hempel ist mit den Arbeiten Yaacov Agams aus den 1950er Jahren vertraut, und es scheint als tragen seine Werke immer auch den Aspekt der Weiterentwicklung in sich. Während Agam visuelle Effekte schuf, die sich nur beim Blick von verschiedenen Standpunkten aus änderten, wird die Wirkung von Sebastian Hempels Werken durch deren Motorantriebe hervorgerufen.11 Seine Arbeit erinnert natürlich auch an die Tafeln mit mehreren durch rotierende Bildlamellen wechselbaren Werbepostern, deren Konstruktion den Künstler zweifellos inspiriert hat.


10 Zur Rolle der Geschwindigkeit und der Bewegung in der Kunst des 20. Jahrhunderts siehe Jeremy Millar und Michiel Schwarz, (Hg.), Speed – Visions of an Accelerated Age, in: Katalog, Whitchapel Galle¬ry, London, 1998.



Klang und Licht
Wie Licht und Klang sowohl optische als auch körperliche Desorientierung erzeugen können, das heißt, das Entstehen von Verwirrungen der Wahrnehmung, hat Hempel seit jeher fasziniert. Eine seiner frühesten Arbeiten, VERDREH-KOPFHÖRER (1996), setzte sich speziell mit diesem Aspekt auseinander. Dieses einfache Experiment mit einem Kopfhörer, bei dem der Ton von der rechten Seite auf das linke Ohr und umgekehrt übertragen wurde, schuf Verwirrung, die nicht nur direkt auf die Sinneswahrnehmung sondern auch körperlich wirkte.
Klangelemente sind oft Teil von Sebastian Hempels Arbeiten (da Motoren selten ohne Geräusch operieren), sie wirken als zusätzliche, jedoch versteckte Realität in den Installationen mit. Aus diesem Grund wird das Element der Geräusche oft in den Arbeiten eingebettet, um den erstrangigen Status herauszufordern, der dem Visuellen im Betrachtungsprozess für gewöhnlich zugemessen wird. Geräusche wirken als Korrektiv für das, was man sieht, und erzeugen damit einen realitätsnaheren Eindruck entsprechend der natürlichen Gleichzeitigkeit der Sinneseindrücke, aus denen sich unsere Wahrnehmung der Welt formt.
Dass Klang traditionell getrennt betrachtet wurde, hängt hauptsächlich damit zusammen, dass man ihn zunächst als zeitlich oder von bestimmter Dauer und daher nicht als räumliches Phänomen ansah. Diese falsche Annahme wurde allerdings in der Vergangenheit bereits mehrfach in Frage gestellt und widerlegt, nicht nur von der zeitgenössischen Klangkunst, sondern auch von der alltäglichen und medial vermittelten Wirklichkeit unserer Welt.12 Tatsächlich sind Klang und Licht zu den spektakulärsten Phänomenen des 20. und 21. Jahrhunderts geworden, wie die zahlreichen „Son et Lumiere“-Aufführungen weltweit beweisen.
Dass wir erst hier zur Betrachtung der Thematik des Lichtes gelangen, soll nicht dahingehend missverstan¬den werden, dass dieser Aspekt in Hempels Arbeiten weniger von Bedeutung ist. Das Gegenteil ist der Fall, denn man kann in der Entwicklung seiner Arbeit eine immer stärkere Hinwendung zu Licht als wesentlichem Ausdrucksmittel erkennen.
Auch zum Element der Farbe gibt es eine immer wichtiger werdende Verbindung, was nicht überrascht, denn schon oft wurde festgestellt, dass Farbe nur im Licht existieren kann. Kein Licht bedeutet auch: keine Farbe, während zu viel Licht alle Farben in weißer Leere verschwinden lässt. Wohl deshalb zeigen Sebastian Hempels neuere Arbeiten eine ausgesprochene Neigung zur Dominanz von Licht und Farbe. Eine Arbeit wie LICHTSPIELE (2004), hier wortwörtlich zu verstehen als „Spiel mit Licht“, wurde in den Kunstsammlungen Gera in einem verdunkelten Raum gezeigt: Bälle sprangen auf und ab und begannen jeweils beim Auftreffen auf dem Boden zu blinken. Das ständige Aufflammen und Verlöschen im Dunkel schuf einen ganz be-sonderen Effekt.
Die gleiche Idee in veränderter Form liegt auch den Wandobjekten LICHTOBJEKT #1 und LICHTOBJEKT #2 (2004) zugrunde, die ein Raster aus blinkenden vielfarbigen Lichtern erzeugen. Die Arrangements der Farben durchlaufen jeweils mehrere Stationen, von einfarbigen bis hin zu vielfarbigen Kombinationen, die sich je doch nie wiederholen. In gewisser Weise erinnern diese Werke an sich verändernde optische Farbskalen und rücken Hempels Arbeit mehr als je zuvor in die Nähe zur Malerei. Man kann sie sogar als abstrakte Gemälde, erschaffen mit Licht, betrachten.
Obwohl wir die Ortsbezogenheit von Sebastian Hempels Arbeiten bisher noch nicht in Betracht gezogen haben, so erscheint es aber klar, dass der Künstler genau einkalkuliert, in welcher Umgebung seine Arbeiten wirken. Seine Installation LÜSTER (2005) für die Städtische Galerie Dresden ist von der Decke hängend im prächtigen Rokoko-Treppenhaus des Dresdner Landhauses montiert. Die Arbeit besteht aus 40 Neonröhren, jede mit eigenem Antrieb auf einer Grundplatte befestigt, die einzeln rotieren und dabei den Anschein er-wecken, als ob sie jeden Moment zusammenstoßen – dies jedoch nie tun. Durch den Einsatz von weißem Licht, bezogen auf den weiß ausgemalten Innenraum des Treppenhauses, erzeugen sie ein außergewöhn¬liches Leuchten bei Tages- und auch bei Nachtzeit. Rein formal betrachtet, erinnert dies an die Arbeit CIRCULAR TRANSMISSION, abgesehen davon, dass die rotierenden Scheiben an der Decke befestigt sind, und dass Leuchtröhren als quasi figurative Formen den Platz darauf einnehmen. Gleichzeitig erinnert man sich auch an LICHTOBJEKT #2, wenn auch nur der Anordnung nach.
Wie in Sebastian Hempels Arbeit immer wieder deutlich wird, beherrscht der Künstler die Anforderun¬gen des drei-dimensionalen Raumes und bringt diese mit den Sinnesphänomenen von Licht, Zeit und Wahrnehmung in Einklang. Das heißt, Wand, Boden und Decke sind in des Künstlers Gedankenwelt vereinigt und die Fortschritte, die er hinsichtlich der technischen Vervollkommnung gemacht hat, sind eng mit einem gewachsenen Verständnis für die Komplexität von Installation und Präsentation verknüpft.
Die Gedanken von Sebastian Hempel richten sich immer wieder auf die gesteigerte Komplexität größerer Projekte und Entwürfe, von denen viele für eine Präsentation außerhalb von Museums- oder Galerieräumen gedacht sind. Dies wird an seinem Entwurf WASSERSÄULE für die Augustusbrücke in Dresden oder ebenso auch bei der Arbeit LAUBENGÄNGE (2002) für das Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden deutlich. Es gibt weitere Projekte wie eine rotierende kinetische Lichtinstallation für einen Neu¬bau des Biotechnisch-Biomedizinischen Zentrums Leipzig oder einen farbenprächtigen WANDTEPPICH für den Wettbewerb zur Ausstattung der Fakultät für Geschichts- und Orientwissenschaften an der Universität Leipzig. Dabei ist weniger von Bedeutung, ob diese Vorhaben realisiert werden, obwohl dies selbstverständlich wünschenswert wäre, sondern dass Hempel fortfährt, seine Ideen in immer neue und künstlerisch wie technisch noch komplexere Projekte zu konzentrieren.
Dass er dies tut, mit Sinn für Humor und für das Spielerische, ist eine seiner größten Leistungen. Man fühlt sich an eine frühere Videoinstallation mit dem Titel VIER GEWINNT aus dem Jahr 2000 erinnert. In ihr spielen zwei Kinder ein Spiel, bei dem sie farbige Scheiben in einen Rahmen fallen lassen. Diese vergrößerte und variierte Form des Spiels „Tic Tac Toe“ hat formal betrachtet eine ähnliche Gitter- und Kreisstruktur wie LÜSTER. Wie man sieht, ist das Spielerische nie gänzlich aus Sebastian Hempels Gedan¬kenwelt wegzudenken, wohl auch, weil er als Vater sehr direkt mit kindlichem Spielverhalten und den Spielerfahrungen seiner eigenen Kinder konfrontiert ist. Dies erinnert an Nietzsches berühmten Ausspruch zur Haltung von bildnerisch arbeitenden Künstlern: „ Es ist ein Zeichen überlegener Kultur, gewisse Phasen der Entwicklung, welche die geringeren Menschen fast gedankenlos durchleben und von der Tafel ihrer Seele dann wegwischen, mit Bewusstsein festzuhalten und ein getreues Bild davon zu entwerfen ...“ 13
Ein gewisser Sinn für das Spielerische ist im Laufe der kreativen Entwicklung des Künstlers bewahrt und lebendig geblieben. Nach dem Erlebnis von Sebastian Hempels Arbeiten wird klar, dass er das genaue Gegenteil des sprichwörtlichen Jack ist, denn was wir hier vorfinden, ist alles andere als das Werk eines ‚langweiligen Jungen‘.
11Eine Übersicht über Yaacov Agams Schaffen bietet Sayako Aragaki, Agam, Beyond the Visible, Gefen Publishing House, Jerusalem und New York, 1997.
12 Eine eingehende Analyse der ge¬genwärtigen Untersuchungen zur räumlichen Klangkunst bietet Sonic Boom: The Art of Sound, in: Katalog der Hayward Gallery, South Bank Centre, London, 2000.

13 Friedrich Nietzsche, Anzeichen höherer und niederer Kultur in: Menschliches, Allzumenschliches: ein Buch für freie Geister, Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1954 (Erst-auflage 1878), S. 223, Abschnitt 274:Ein Ausschnitt unseres Selbst als künstlerisches Objekt.
 
© Mark Gisbourne
Publikation: SEBASTIAN HEMPEL I 2006
Herausgeber: Städtische Galerie Dresden, D